Wie die Schule für die Kinder reif wird

Die Vorverlagerung des Einschulungsalters von Kindern ist in der Bundesrepublik eine Realität geworden. Unabhängig davon, dass die damit deutlich werdenden Intentionen auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus „erfolgreichen PISA-Ländern“, in denen die Einschulung nach wie vor erst mit 7 Jahren erfolgt, Fragen aufwerfen, ergeben sich im Zusammenhang mit der bisherigen Orientierung zum Einschulungszeitpunkt, nämlich der Schulreife und der Schulfähigkeit, veränderte Aufgabenstellungen. Wurde vielfach mit Schulreife der Zeitpunkt markiert, zu dem ein Kind „reif für die Schule“ ist, lautet die Frage heute, wie eine Schule sich für Kinder unterschiedlicher Entwicklungsphasen „reif“ machen kann: Neue und vielfältige Formen des Lernens werden gebraucht, um der wachsenden Heterogenität der Kinder gerecht zu werden.

Viele Waldorfschulen sammeln seit Jahren Erfahrungen mit dem so genannten „bewegten Klassenzimmer“, das in den ersten zwei oder drei Schuljahren alle Lernprozesse aus der Bewegung heraus gestaltet, statt diese - wie traditionell im Schulbereich - aus dem Lernen auszuklammern. Diese veränderte Grundhaltung wird daran deutlich, dass auf fest installierte Schulmöbel zugunsten variabler Ausstattungen verzichtet wird, um die eigene Aktivität der Kinder zum Ausgangspunkt ihres Lernens zu machen und so die für das schulische Lernen im engeren Sinne notwendigen Fähigkeiten im Laufe der ersten zwei Schuljahre individuell heranzubilden.

Die Entwicklung der Kinder verläuft heute viel individueller, so dass in größerem Umfang heterogene Lebenszugänge in Gruppen notwendig werden. Schulpflichtig werdende Kinder, z.B.  Sechsjährige, sind heute intellektuell oft auffallend wach. Während ihr Weltverständnis stark ausgeprägt ist, kann ihre soziale Reife, Kraft und Ausdauer damit aber nicht immer Schritt halten. Bei der Bewertung von Fähigkeiten, die in der Schule erforderlich sind, besteht  die Versuchung, die intellektuelle Reife höher als die sonstige Entwicklung zu bewerten und dadurch statt zu einer ausgewogenen Vielfalt der kindlichen Erfahrungsfelder zu ihrer Vereinseitigung beizutragen. Angesichts der wachsenden zivilisatorischen Herausforderungen an die kindlichen Lebenskräfte kommt es gleichwohl immer mehr auf diese Vielfalt der Möglichkeiten an, sich die „Welt zu eigen“ zu machen, wie dies Kindergarten und Schule in unterschiedlicher Weise und einander ergänzend leisten können.

Das Lernen mit „Herz, Hand und Hirn“ ist also kein Luxus, sondern eine der wesentlichen kulturellen Herausforderungen unserer Zeit. An vielen Waldorfschulen gehört daher eine schulärztliche Praxis zu ihrem Selbstverständnis: Lehrer:innen, Erzieher:innen, Schulärztin oder Schularzt und Therapeuten bilden in enger Zusammenarbeit mit den Eltern ein pädagogisches Team, das sich darum bemüht, die leibliche, seelische und geistige Entwicklung der Kinder und Jugendlichen individuell zu fördern. Die Lehrpläne und Unterrichtsinhalte sollen diese Entwicklung unterstützen und werden daher immer wieder neu reflektiert und weiterentwickelt.

Auf dem Weg zum Bildungsdorf

Schule und Kindergarten können Begegnungsräume für die Kinder und Jugendlichen beider Institutionen schaffen. In Anlehnung an die Idee des „Bildungshauses“ kann man auch von einem Bildungsdorf sprechen, das vielfältige Begegnungsmöglichkeiten sichert und schafft und neben festen Häusern auch Gärten, Handwerksbetriebe und andere lebenspraktische Tätigkeitsfelder zur Verfügung stellt. Waldorfschulen sind in unterschiedlicher Weise auf dem Weg, diese Felder auszugestalten. Konzeptionell hat die Waldorfpädagogik mit ihrem umfassenden Entwicklungsbegriff „von 0 bis 18“ dafür eine gute Grundlage.

Bildungsdörfer entstehen durch Zusammenarbeit und Begegnungen. Sie werden auch durch eine räumliche Verbindung von Kindergarten und Schule, die Geländegestaltung, gemeinsame Projekte und gemeinsame Aus- und Fortbildungen von Erzieher:innen und Lehrer:innen gefördert.

So können etwa gemeinsame Naturprojekte Lebenszusammenhänge vermitteln und Begegnungen schaffen. Dabei können die Kleinen von den Großen und diese etwas über kleinere Kinder lernen. Auch der für viele Kinder problematische „Schwellenübertritt“ vom Kindergarten in die Schule kann durch gemeinsame Projekte von Kindergarten- und Unterstufenkindern deutlich abgemildert werden und den Kindern Zuversicht zur Bewältigung dieser Schwelle geben.

Viele Waldorfkindergärten haben inzwischen mit nahe gelegenen Waldorfschulen Kooperationsverträge geschlossen, um die Zusammenarbeit zu intensivieren. Dieser Prozess geht weiter und ist noch längst nicht abgeschlossen.

An einigen Waldorfschulen haben sich im Laufe der letzten Jahre Brückenklassen gebildet, um Schülerinnen und Schülern, die zwar das Einschulungsalter erreicht haben, mit den Anforderungen einer Großklasse aber überfordert sind, den Übergang zu erleichtern. Die hier gemachten Erfahrungen bieten auch wertvolle Gesichtspunkte für eine grundlegendere Weiterentwicklung in der Zusammenarbeit zwischen Kindergarten und Schule.

Henning Kullak-Ublick