Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg wollen von den Waldorfschulen lernen

Stuttgart/Mannheim, 14. November 2012/CMS. Bei der vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) initiierten Fachtagung „Gemeinschaftsschule und Waldorfpädagogik“ in der Waldorfschule Mannheim fand am 13. November ein intensiver fachlicher Austausch zwischen staatlichen und Waldorfpädagogen statt. Ziel war es, die jahrzehntelange Erfahrung der Waldorfschulen in der praktischen Umsetzung einer ästhetisch-künstlerischen Erziehung für die 42 seit dem Schuljahr 2012/13 in Baden-Württemberg arbeitenden Gemeinschaftsschulen methodisch zu erschließen.

„Wir freuen uns außerordentlich, dass dieser Dialog zustande gekommen ist und hoffen, dass er für beide Seiten fruchtbar wird“, sagte Vorstand Henning Kullak-Ublick im Namen des Bundes der Freien Waldorfschulen. Als Beispiel für eine gelungene Zusammenarbeit zwischen staatlichen und freien Schulen verwies er auf Finnland: „Dort begann dieser Dialog schon vor Jahrzehnten, mit dem Ergebnis, dass staatliche und freie Schulen weitgehend autonom arbeiten können und die gleiche Finanzierung erhalten, so dass die Eltern dadurch eine echte Wahlfreiheit haben. Wer Erziehungskunst will, muss Freiheit schaffen“, so Kullak-Ublick weiter.

Auch Prof. Dr. Dr. Johann J. Beichel vom KIT hält mehr Autonomie der Schulen und Lehrer für zwingend notwendig, um ihr schöpferisches Potenzial im Unterricht entfalten zu können, was ästhetische Erziehung erst ermögliche. Und genau da können und müssen die Gemeinschaftsschulen noch viel lernen: „Die Waldorfschulen haben bereits seit Jahrzehnten große Erfahrung im handwerklich-künstlerischen Tun, wovon wir profitieren können. Schließlich müssen wir das Rad nicht zweimal erfinden. Wir sind uns einig, dass die ästhetische Bildung Basis der Erziehung ist, und dass wir von den Bedürfnissen des Kindes aus denken wollen“, erläutert Beichel. Dafür ist die Frage der Lehrerbildung und -beurteilung eine zentrale, die in Baden-Württemberg dringend reformbedürftig sei, denn es würde nicht mehr reichen, dabei nur kognitionsorientiert vorzugehen.

Ministerialdirektorin Dr. Margret Ruep leitete aus der Theorie von Johann Friedrich Herbart und Friedrich Schiller ebenfalls den Stellenwert der ästhetischen Erziehung her. Nach Herbart sei die Ästhetik als Wahrnehmung (von altgriechisch aísthēsis = Wahrnehmung) der Ausgangspunkt gelingender Lernprozesse. Im Mittelpunkt seiner Pädagogik steht die Ausbildung von Interessen, die er als die im Menschen steckenden Gemütskräfte ansieht. Diese seien nur über die ästhetische Erziehung (Wahrnehmungsübungen) zu aktivieren und in Handeln umzusetzen. „Damit die Kinder und Jugendlichen sich entfalten können, muss es unser Ziel im Bildungsprozess sein, Sinnlichkeit und Rationalität zusammenzubringen. Genau in diese Richtung soll das Lehr-Lernkonzept der Gemeinschaftsschule gehen, das ich am liebsten in allen Schulen implementieren würde. Denn unser dreigliedriges Schulsystem ist in weiten Teilen nicht mehr mit den Verfassungsgrundsätzen von Gerechtigkeit und Chancengleichheit für alle Menschen kompatibel“, so Ruep.

Für den praktischen Teil sprach Claus Peter Röh, Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum in Dornach. Er schilderte aus seiner fast 30-jährigen Erfahrung als Waldorflehrer anhand vieler Beispiele, wie die Erziehung zur Kunst werden kann. „Die Schülerinnen und Schüler leiten uns dabei gemäß ihrem Entwicklungsstand, wenn wir authentisch unser schöpferisches Potenzial in den Unterricht einbringen.“ Röh nahm die Zuhörer mit auf eine Reise durch die ersten acht Schuljahre und ließ sie erfahren, wie sich komplexe historische, grammatikalische, geografische oder geometrische Zusammenhänge aus künstlerischen Prozessen heraus entwickeln und dadurch zum individuell erarbeiteten Besitz jedes Schülers werden lassen. Anschaulich erklärte er, dass Erkenntnis und Kunst nicht nur keinen Widerspruch bilden, sondern eine fruchtbare Spannung aufbauen können, die jedem Schüler die Möglichkeit zur Selbstwirksamkeit eröffnet, denn „im Künstlerischen ist jeder Mensch eine Individualität“, schloss er mit den Worten Rudolf Steiners.

Im Abschlussplenum resümierte Beichel, dass alle Beteiligten die Fachtagung als Bereicherung empfanden: „Wir haben gemerkt, dass wir inhaltlich sehr nah beieinander liegen und das gleiche wollen, nämlich vom Kind aus denken“, so Beichel. Außerdem sei es erklärtes Anliegen, die Arbeit der Waldorfschulen zu erleichtern und in der Lehrerbildung aufeinander zuzugehen. Der ebenfalls anwesende dm-Gründer Götz Werner schlug dazu konkret vor, dass das Mannheimer Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität interessierten Lehrern von Gemeinschafsschulen Fortbildungen anbieten könne. Der Austausch über pädagogische Ansätze einer ästhetischen Erziehung soll im Jahr 2013 in jedem Fall fortgesetzt werden.

Bund der Freien Waldorfschulen e.V.
Die derzeit 233 deutschen Waldorfschulen haben sich zum Bund der Freien Waldorfschulen e.V. mit Sitz in Stuttgart zusammengeschlossen, wo 1919 die erste Waldorfschule eröffnet wurde. Die föderative Vereinigung lässt die Autonomie der einzelnen Waldorfschule unangetastet, nimmt aber gemeinsame Aufgaben und Interessen wahr.