Salutogenese und Waldorfpädagogik

Da in zunehmend alternden Gesellschaften lebenslange Gesundheit ein immer höher zu bewertendes Gut sowohl in persönlicher und finanzieller als auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht wird, gewinnt der Ansatz der Salutogenese ("Gesundheitsentstehung") von Kindesbeinen an zunehmend an Bedeutung.

Heutzutage ist längst bekannt, dass viele systemisch-chronische Erkrankungen wie Übergewichtigkeit, Rückenschmerzen, Bluthochdruck, Arthrose und auch Depressionen von der Lebensweise abhängen. Mögliche Risikofaktoren liegen unter anderem in schlechter Ernährung und mangelnder Bewegung, aber auch soziale Beziehungen und eine gesunde Balance zwischen Leistung und Erholung sind wichtige Einflussfaktoren. Genau an diesem Punkt setzt die Waldorfpädagogik mit ihrem nicht nur allgemeinbildenden, sondern auch gesundheitsfördernden Ansatz [1] an: der Leitgedanke hierzu lautet Rhythmus, denn „Rhythmus trägt Leben“ [2]. Es geht dabei um die Fähigkeit, zwischen Aktivität und Passivität, Anspannung und Entspannung, zwischen Konzentration und Kontemplation sowie zwischen Selbstbehauptung und Fremdwahrnehmung, gut ausgleichen zu können.

Dem Wissen um den gerade bei Kindern engen Zusammenhang zwischen seelischen und physiologischen Vorgängen trägt die Waldorfpädagogik in allen Unterrichten durch ihre rhythmisch gestaltete Methodik Rechnung. Morgens beginnt der sogenannte Hauptunterricht immer mit einem aufweckenden aktiven Teil, in dem Sprachübungen und Gedichte gesprochen werden, zu Liedern geklatscht oder gestampft wird, erst danach folgen intellektuelle Unterrichtsinhalte, wieder unterbrochen von vitalisierenden oder entspannenden Tätigkeiten, je nach Bedarf. Dieses ständige „Ein- und Ausatmen“ im übertragenen Sinne wirkt sich stärkend und harmonisierend auf die Entwicklung physiologischer Rhythmen wie zum Beispiel der Atmung und der Herzratenvariabilität aus, die mit seelischer Schwingungsfähigkeit assoziiert wird und eine Grundlage für lebenslange Gesundheit darstellt. Dafür ist es zudem wichtig, dass die Kinder gemäß dem Ansatz der Salutogenese (Gesunderhaltung) nach Aaron Antonovsky [3] früh ihre Selbstwirksamkeit, die Sinnhaftigkeit ihres Handelns und ein Gefühl der Verbundenheit (Kohärenz) mit ihrer Umwelt erfahren, so dass sie sich später als aktive Gestalter und Erhalter ihrer Gesundheit erleben und besser mit Stress umgehen können. [4]

Hält die Waldorfpädagogik, was sie in dieser Hinsicht verspricht? Eine im Jahr 2007 publizierte Studie [5] ergab tatsächlich eine auffallend niedrige Häufigkeit chronischer Erkrankungen wie Arthrose, Bluthochdruck, entzündliche Gelenkerkrankungen und Diabetes in der zweiten Lebenshälfte ehemaliger Waldorfabsolvent:innen. Um diese Ergebnisse zu validieren und weitere eventuelle lebenslange Auswirkungen von Unterricht und Schule auf die Gesundheit zu beobachten, hat Prof. Dr. Christoph Hueck (Freie Hochschule Stuttgart) in enger Zusammenarbeit mit dem Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Berliner Charité eine umfassende Folgestudie [6] durchgeführt.

Neben ausführlichen Angaben zu ärztlich diagnostizierten Krankheiten und Beschwerden sowie zur Lebensqualität und Selbstwirksamkeit wurden vor allem das Gesundheitsverhalten der Befragten, ihr sozialer Status und ihr elterlicher Hintergrund detailliert erhoben. Unabhängig vom Gesundheitsverhalten wie Sport, Ernährung, Rauchen und Alkoholkonsum und auch vom Bildungsstand des Elternhauses litten ehemalige Waldorfschüler:innen seltener an Arthrose (-30 %), Gelenkschmerzen (-40 %), Gleichgewichtsstörungen (-45 %), Rückenschmerzen (-20 %), Magen-Darm-Beschwerden (-20 %) und Schlafstörungen (-30%) sowie Heuschnupfen. Aufgrund der begrenzten Aussagefähigkeit, bedingt durch das Studiendesign, sind in Zukunft weitere Forschungen geplant, um Salutogenese-Effekte der Waldorfpädagogik noch besser untersuchen zu können. [7] 

Celia Schönstedt

Blickpunkt 10

Salutogenese - gesundheitsfördernde Erziehung an Waldorfschulen

 

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  1. Marti: Wie kann Schule die Gesundheit fördern? Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart, 2006
  2. So lautete 1924 die Teilantwort Rudolf Steiners gegenüber Rudolf Hauschka, dem Begründer der WALA Heilmittel GmbH, auf die Frage, was denn Leben sei
  3. Weitere Informationen zum Salutogenese-Konzept beim Zentrum für Salutogenese
  4. Weitere Informationen siehe auch Blickpunkt 10: Salutogenese
  5. Barz, H/Randoll, D. (Hrsg.): Absolventen von Waldorfschulen. Verlag für Sozialwissenschaften. Wiesbaden 2007
  6. Fischer et al.: The Effect of attending Steiner Schools during child-hood on health in adulthood: A multicentre cross-sectional study. PLOS one, 2013, Vol. 8, Issue 9, e73135
  7. Hueck, C.: Sind ehemalige Waldorfschüler gesünder? Erziehungskunst - Waldorfpädagogik heute, Januar 2014, S. 48-53