"Die Bürger müssen sich die Schulen vom Staat zurückholen": Bildungsexperten diskutierten auf der didacta 2011

Stuttgart, 25.02.2011. Mehr Autonomie für die staatlichen Schulen und eine solide Finanzierung des Freien Schulwesens sind eine entscheidende Weichenstellung für die Reform des Bildungswesens in Deutschland. Diese These vertraten übereinstimmend Teilnehmer einer Podiumsdiskussion des Bundes der Freien Waldorfschulen auf der Bildungsmesse didacta in Stuttgart. „Freie Schulen für alle!“ war das Thema. Dabei wurde u.a. die Frage aufgeworfen, wie Waldorfpädagogik auch den Kindern in sozialen Brennpunkten zugute kommen könne.

Man solle wegkommen von dem Gegensatz „freie“ versus „staatliche“ Schule, forderte die bildungspolitische Sprecherin und stellvertretende Fraktionsvorsitzende
der SPD im Sächsischen Landtag, Dr. Eva-Maria Stange. Als Vision bezeichnete sie eine „autonome Schule, die ein eigenes Budget hat, inklusiv arbeitet und in der jedes Kind gefördert wird.“ Stange sprach sich für eine gleichberechtigte Finanzierung aller Schulen aus, die sich an der Anzahl ihrer Schüler und nicht am Träger orientiert.

Christian Füller, Buchautor und taz-Redakteur, betonte, eine Bildungsreform könne „nur von unten“ stattfinden. „Die Bürger müssen sich die Schulen vom Staat
zurückholen“, forderte er. Es sein ein Unding, wenn engagierte Bürger in sozialen Brennpunkten Schulen gründen wollten und dafür keine Unterstützung von staatlicher Seite erführen. An die Adresse der Freien Schulen richtete er den Appell, eine Quote für benachteiligte Kinder einzuführen. Bis zu 25 Prozent der Plätze sollten seiner Meinung nach für sie zur Verfügung gestellt werden.

Christoph Doll, Mitbegründer der Interkulturellen Waldorfschule Mannheim und Dozent am Seminar für Waldorfpädagogik in Berlin, wies darauf hin, dass der
Schulbetrieb der Interkulturellen Waldorfschule nur durch Sponsoren möglich sei, die jährlich rund 300.000 Euro für die Betriebskosten aufbringen. Die ersten drei Jahre habe man ohne jegliche staatliche Unterstützung durchstehen müssen. Er forderte die Waldorfschulbewegung auf, sich der Problematik der benachteiligten Schüler stärker zu stellen. „Wir müssen dahin, wo die Zeit uns Fragen stellt“, betonte er und wies auf die Initiativen zur Gründung von Interkulturellen Waldorfschulen in Hamburg, Dortmund, Berlin, Stuttgart und Landshut hin. „Sie wirken wie Hefe für die Waldorfschulbewegung und zum hundertjährigen Jubiläum der Waldorfschulen im Jahr 2019 wünsche ich mir in jedem Bundesland mehrere solcher Schulen.“

Moderator Henning Kullak-Ublick vom Bundesvorstand der Freien Waldorfschulen warf die Frage auf, ob die Einführung des Bildungsgutscheins nicht das effizienteste Mittel sei, um einerseits eine freie Schulwahl für Kinder aller Einkommensschichten sicherzustellen und zugleich einen fairen Wettbewerb um die besten pädagogischen Ideen zu initiieren.

Claudine Nierth, Vorstandssprecherin von „Mehr Demokratie!“ setzte sich entschieden für eine verstärkte Bürgerbeteiligung am Schulwesen ein, die auch durch
Bildungsgutscheine abgesichert werden solle. „Warum haben wir kein Vertrauen, dass die Bürger vor Ort die Schulen gründen, die sich wirklich brauchen?“ fragte sie. Durch die zunehmende Individualisierung der Menschen sei eine neue Pädagogik notwendig, die nur durch die Mitwirkung der Bürger entstehen könne. „Wir müssen uns fragen, was für ein Schulsystem wir wollen für die Zukunft,“ betonte sie.

Die Podiumsdiskussion „Freie Schulen für alle?“ war Teil des Veranstaltungsprogramms der Initiative „Waldorfpädagogik aktuell“ auf der diesjährigen didacta in Stuttgart. Zu dieser Initiative haben sich die Landesarbeitsgemeinschaft der Waldorfschulen Baden-Württemberg, der Bund der Freien Waldorfschulen und die Vereinigung der Waldorfkindergärten zusammengeschlossen. Auf dem aus Holzelementen und pastellfarbenen Flächen gestalteten Stand der Initiative ist an allen didacta-Tagen ein vielfältiges Programm zu sehen, das von Spinnen, Werken und Filzen bis hin zu Akrobatik und Orchesterdarbietungen reicht. Zahlreiche Schüler der Waldorfschulen der Region sind am Programm beteiligt. Auch an der Eröffnungsveranstaltung von Europas größter Bildungsmesse zeigte Leonard Avelini, ein Schüler der Freien Waldorfschule Stuttgart Kräherwald neben einer jungen Klaviervirtuosin vor der gesamten geladenen Prominenz sein Können auf der Geige. Das Instrument stammte aus dem Deutschen Musikinstrumentenfonds der Deutschen Stiftung Musikleben.