Inklusion heißt, Pädagogik täglich neu zu entwickeln

SchülerInnen der inklusiven Michaeli-Schule in Köln betreiben Kaffeebar am didacta-Stand von Waldorfpädagogik aktuell

Köln/Stuttgart, 22. Februar 2013/CMS. Zur Inklusion als dem Leitthema der didacta 2013 hat die Waldorfpädagogik bei einer Veranstaltung ihre Positionen deutlich gemacht und diese sowohl mit Praxisbeispielen als auch theoretisch belegt. Die nordrhein-westfälische Bildungsministerin Sylvia Löhrmann lobte die Waldorfschulen bei einem Standbesuch für ihre besonderen Bemühungen um ganzheitliche Lern­prozesse und die Persönlichkeitsbildung jedes einzelnen Schülers.

Seit Gründung der ersten Waldorfschule steht diese Orientierung im Vordergrund der Waldorfpädagogik. Um sie flächendeckend auf inklusiv arbeitende Schulen übertra­gen zu können, müssen die Voraussetzungen gleichwohl erst geschaffen werden. Über diese sprachen am Waldorfstand auf der didacta die drei Experten Birgitt Beckers, langjährige Waldorfklassenlehrerin und Vorstandsmitglied im Bund der Freien Waldorfschulen (BdFWS), Matthias Braselmann, Mitbegründer der seit 16 Jahren inklusiv arbeitenden Windrather Talschule, und Dr. Thomas Maschke, Sonderpädagoge und Dozent am Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität.

Wenn Schule ein Ort für alle Kinder werden solle und künftig auf die Ausgrenzung von Kindern mit besonderem Assistenzbedarf verzichten wolle, müsse dies einschnei­dende Konsequenzen für die Pädagogik haben. „Wenn sich eine Schule dem Grund­satz verschreibt, inklusiv zu arbeiten, muss die Pädagogik jeden Tag neu entwickelt werden“, betonte Maschke. Es könne nicht darum gehen, einfach etwas hinzuzu­fügen. Der Heilpädagoge unterstrich auch die Bedeutung der Zusammenarbeit von pädagogischen Teams bei der Verwirklichung der Inklusion: „Wir müssen im Dialog mit den Beteiligten immer Suchende und Fragende bleiben.“ Antworten würden sich im Gespräch mit den anderen Lehrern, aber auch mit den Eltern und in der Begeg­nung mit den Kindern selbst ergeben. Ein ganz wichtiger Bestandteil der inklusiven Pädagogik sei es daher, sich von der ausschließlichen Lehrerzentrierung zu verab­schieden: „Lehrer werden zu Lernbegleitern der Kinder, die die Akteure des Geschehens sind“, so Maschke.

Braselmann erläuterte den Tagesablauf am Beispiel der Windrather Talschule in Velbert. Bei den jüngeren Kindern stehe die Bewegung in der Natur am Anfang jeden Schultages: „Morgens gehen sie als erstes zusammen hinaus und machen einen sinnigen Spaziergang, d.h. sie beobachten dabei jeden Tag etwas Neues.“ Eine andere Gruppe lerne, indem sie Laub zusammen fege, so komme ein Element der Erlebnispädagogik zum Tragen. Danach erzählten sich die Schüler, was sie erlebt hätten und befragten sich gegenseitig dazu: „So entdecken sie, wie unterschiedlich man Dinge erleben kann.“ Nach einem gemeinsamen Frühstück beginne dann mit zwei Lehrern im Team der Unterricht im klassischen Sinne, wobei mit einzelnen Kindern teilweise Sonderaufgaben durchgeführt würden. Der Fachlehrer schließe später dann nahtlos mit seinem Unterricht an, da der Begriff von „Pause“ noch keine Bedeutung habe: „Kinder wollen immer aktiv und ‚beteiligt‘ sein.“

Klassenlehrerin Birgitt Beckers sprach die Befürchtung vieler Eltern an, dass ihre Kinder in einer inklusiv arbeitenden Schule nicht ausreichend gefördert würden, wenn sie selbst keinen besonderen Förderbedarf hätten. Dem widersprach Maschke und zitierte eine Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung. Danach wiesen inklusive Schulen einen höheren Anteil an Wechslern auf Gymnasium und Realschule auf als andere Schulen. Auch daran zeige sich, dass es bei der Verwirklichung der Inklusion um eine völlig neue Pädagogik gehe, die die Entwicklung aller Kinder befördere.

Um diese positiven Wirkungen der Inklusion flächendeckend realisieren zu können, müsse klar sein, dass es kein Sparmodell sei, im Gegenteil: „Inklusion braucht ent­sprechende Räume und für jede Klasse ein Team von Lehrern, nicht nur Hilfskräfte“, betonte Maschke. Dafür benötige man in Zukunft eine Ressourcenverteilung nach Klassenverbänden und nicht mehr nach Schüler-Pro-Kopf-Sätzen, ergänzte Brasel­mann. Es könne nicht angehen, dass eine Schule ein schwerbehindertes Kind nur deswegen aufnehme, weil es einen höheren Fördersatz einbringe.

Die Verwirklichung der Inklusion war auch Thema beim Besuch von NRW-Bildungs­ministerin Sylvia Löhrmann am Stand von „Waldorfpädagogik aktuell“ auf der didacta. Sie wies darauf hin, dass in Nordrhein-Westfalen schon jetzt jedes vierte Kind mit besonderem Förderbedarf eine allgemeine Schule besucht. „Wir fangen hier nicht bei null an“, so Löhrmann im Gespräch mit BdFWS-Vorstand Henning Kullak-Ublick. Löhrmann bekräftigte auch, dass die freien Schulen in NRW Teil des öffent­lich verantworteten Bildungswesen seien. Die rot-grüne Landesregierung werde auch in Zukunft mit ihnen im Dialog bleiben. Generell sei es ein Markenzeichen der Landesregierung, das Gespräch mit Betroffenen zu suchen, sagte Löhrmann. Auch bei einem didacta-Forum über die Schule der Zukunft hatte Löhrmann der Zivil­gesellschaft eine bedeutende Rolle bei der Erneuerung des Schulsystems zugewiesen. Bei ihrem Standbesuch betonte die Ministerin, sie fände es richtig, dass der bildungspolitische Fokus  wieder mehr die kulturelle Bildung, ganzheitliche Lernprozesse und die Persönlichkeitsbildung in den Blick nehme. „Und hier haben die Waldorfschulen einiges zu bieten“, sagte Löhrmann.

Waldorfpädagogik aktuell
Das ist der gemeinsame Auftritt der großen Verbände der Waldorfpädagogik auf der didacta. Die Vereinigung der Waldorfkindergärten umfasst 553 Waldorfkindergärten, der Verband für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und soziale Arbeit repräsentiert 73 heilpädagogische Schulen und dem Bund der Freien Waldorfschulen gehören 233 Waldorfschulen an.