Inklusion und Selektion im Schulwesen schließen sich aus

Von links nach rechts: Dr. Thomas Maschke_Henning Kullak-Ublick_Birgitt Beckers_Prof. Dr. Steffen Koolmann

Berlin/Stuttgart, 12. September 2013/CU. Die Waldorfschulen in Deutschland sehen sich als Vorreiter bei der Umsetzung des Inklusionsgedankens, wie er in der UN-Behindertenrechtskonvention formuliert ist. Der Bund der Freien Waldorfschulen (BdFWS) bietet allen Waldorfschulen seine Unterstützung an, die sich in diese Richtung weiterentwickeln wollen. Dies bekräftigten Vertreter des BdFWS bei einer Pressekonferenz am Donnerstag vor Journalisten in Berlin (s. auch Kurzfilm). Mit einem großen Kongress in der Bundeshauptstadt vom 20.-22. September 2013 will die Waldorfschulbewegung zum Erfahrungsaustausch über Inklusion beitragen.

„Auch wenn es damals nicht so bezeichnet wurde, hat die Inklusion bereits bei der Gründung der ersten Waldorfschule 1919 in Stuttgart Pate gestanden“, erläuterte dazu Henning Kullak-Ublick vom Vorstand des BdFWS. In Waldorfschulen bildeten immer die vorhandenen Fähigkeiten der Kinder den Ausgangspunkt für die pädagogische Arbeit, während ein auf Selektion ausgelegtes Schulwesen notwendig die Vermeidung von Defiziten in den Vordergrund stelle.

Die aktuelle Entwicklung sei daher von großer gesellschaftlicher Relevanz, betonte Kullak-Ublick: „Inklusion und Selektion schließen sich aus. Hier ist ein Paradigmenwechsel im Bildungswesen notwendig, für den der BdFWS bereits in den ‚7 Kernforderungen an die Bildungspolitik’ plädiert hat. Wir müssen von dem alten Gedanken der Schulpflicht zum umfassenden Recht auf Bildung gelangen und dies auch im Grundgesetz verankern.“

Historisch hätten sich, bedingt durch die Schulgesetzgebung der Länder, auch bei den Waldorfschulen getrennte Förder- und Regelschulen herausgebildet, sehr oft arbeiteten beide Schulformen aber unter einem Dach zusammen in der Überzeugung, dass sie „eine Schule für alle“ sein wollten. „Die innovative Kraft der Inklusionsidee müssen wir auch innerhalb der Waldorfpädagogik wieder neu entdecken“, so Kullak-Ublick.

Dr. Thomas Maschke vom Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität in Mannheim betonte, dass der notwendige Paradigmenwechsel auch für die Lehrerbildung gelte. Hier müsse der Fördergedanke ebenfalls stärker verankert werden. Inklusion erfordere einen Wandel in der Gestaltung des Unterrichts im Sinne der methodischen Vielfalt. Außerdem müsse den Schülern – aber auch den Eltern – die Unterschiedlichkeit von Lernwegen und Ergebnissen vermittelt werden. „Hier ist ein Wandel in den Köpfen notwendig, der vermutlich langwierig und nicht linear sein wird,“ meinte Maschke. Darauf müssten die Lehrer in der Ausbildung angemessen vorbereitet werden.

Birgitt Beckers vom Vorstand des BdFWS warnte davor, aus dem Inklusions­gedanken ein Sparmodell an den Schulen zu machen: „Der Staat muss die räumlichen, personellen und therapeutischen Voraussetzungen schaffen, damit Inklusion wirksam werden kann. Heilpädagogen und Pädagogen aus Regelschulklassen müssen die Möglichkeit erhalten, gemeinsam eine Pädagogik für alle Kinder zu entwickeln.“

Das Ansinnen, alle Kinder zu einer sozialen Gemeinschaft zusammenzuführen und dennoch für jedes Kind individuelle Lerninhalte, Methoden und Lernziele anzubieten, sei eine riesige Herausforderung, die sich gesellschaftlich auszahlen werde. „Aber die Kindergärten und Schulen dürfen hiermit nicht alleine gelassen werden, sondern benötigen weitest gehende Unterstützung und große Hand­lungsspielräume“, betonte Beckers. Bereits heute arbeiten mehrere Waldorf­schulen inklusiv und etliche weitere versuchen, sich auf diese Aufgabe vorzube­reiten. Viele Waldorfschulen nehmen schon immer Kinder mit besonderem Förderbedarf in ihre Regelklassen auf, ohne dies besonders auszuweisen.

Auch Prof. Dr. Steffen Koolmann, Leiter des Instituts für Bildungsökonomie an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter, machte deutlich, dass Inklusion nicht zum Nulltarif zu haben sei. „Neben zusätzlichen Lehrkräften sind erhebliche Aufwendungen für therapeutische und fördernde Maßnahmen erforderlich sowie auch für die Raum- und Sachausstattung“, so Koolmann.

Bereits seit vielen Jahren würden die Waldorfschulen in erheblichem Umfang diese zusätzlichen Aufwendungen finanzieren – ohne dass dieses bislang bei ihrer Bezuschussung berücksichtigt worden sei. Letztendlich erfolge die Finanzierung dieses zusätzlichen Angebots für Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf solidarisch durch alle Eltern der Waldorfschulen. Die vom Statistischen Bundesamt für das Schuljahr 2011/12 für Deutschland ausgewiesene Integrationsquote in Höhe von 1,5 Prozent läge an den Waldorfschulen schon seit langem deutlich höher.

Das Institut für Bildungsökonomie legt seit 40 Jahren jährlich einen in der deutschen Bildungslandschaft einzigartigen Transparenzbericht über die wirtschaftliche Lage an den Waldorfschulen vor.

Bund der Freien Waldorfschulen e.V.
Die derzeit 232 deutschen Waldorfschulen haben sich zum Bund der Freien Waldorfschulen e.V. mit Sitz in Stuttgart zusammengeschlossen, wo 1919 die erste Waldorfschule eröffnet wurde. Die föderative Vereinigung lässt die Autonomie der einzelnen Waldorfschule unangetastet, nimmt aber gemeinsame Aufgaben und Interessen wahr.