Waldorfschulen gegen Rassismus und Diskriminierung

Stuttgarter Erklärung

Rudolf Steiner und Waldorfschule

Die erste Waldorfschule wurde 1919 in Stuttgart als freie Schule für die Kinder der Arbeiter der Waldorf-Astoria Zigarettenfabrik gegründet. Rudolf Steiner, der sich seit 1917 intensiv für eine konsequente Überwindung autoritärer Gesellschaftsstrukturen eingesetzt hatte, wurde als Schulleiter berufen. Das Schulwesen betrachtete er als Teil eines erst noch zu bildenden „freien Geisteslebens“, das der direkten Einflussnahme durch politische, wirtschaftliche oder ideologische Partikularinteressen entzogen und auf den Boden der Selbstverwaltung gestellt werden sollte.

Die pädagogischen Ideen, die er in der Waldorfschule zu verwirklichen suchte, waren das Ergebnis einer Jahrzehnte währenden Forschung über die wechselseitige Beziehung der leiblich-physiologischen, psychischen und geistig-spirituellen Existenz des Menschen, und zwar sowohl in seiner biografischen Entwicklung als auch im Sinne einer geisteswissenschaftlich erweiterten Anthropologie, der Anthroposophie. Steiner entwickelte die Anthroposophie in Büchern und zahllosen Vorträgen, nachdem er sich zunächst als Philosoph und Goethe-Forscher einen Namen gemacht hatte.

Warum wird Rudolf Steiner von Kritikern Rassismus vorgeworfen?

Während er sich in seinen philosophischen Schriften intensiv mit dem deutschen Idealismus und den erkenntnistheoretischen Ansätzen des späten 19. Jahrhunderts auseinandersetzte, knüpfte er mit seiner anthroposophischen Forschung zunächst an eine Begrifflichkeit an, die im theosophischen Kontext gepflegt wurde. Dabei verwendete er auch Worte, die aus heutiger Sicht völlig indiskutabel sind. Eins dieser Worte ist beispielsweise „Wurzelrasse“ – ein Wort, das nach den rassistischen Verbrechen des Nationalsozialismus die Frage aufwirft, ob Rudolf Steiner selbst ein Rassist war oder ob gar die gesamte anthroposophische Geisteswissenschaft von rassistischem Ideengut durchzogen ist.

Nun lässt sich gerade an diesem Wort zeigen, wie Steiner das theosophische Vokabular immer mehr abstreifte und zu einer völlig eigenen Begriffsbildung kam: Statt von „Wurzelrassen“ sprach er später nur noch von "Zeitaltern" oder „Epochen“, weil er deutlich machen wollte, dass es in diesem Kontext nicht um ethnische, sondern um kulturelle Entwicklungsepochen der Menschheit ging. Steiner betonte, dass die ethnische Abstammung der Menschen in früheren Zeiten zwar eine Rolle gespielt habe, diese aber längst überholt sei. Die individuelle Urteilskraft des einzelnen Menschen müsse alle Formen eines instinktiven Gruppenbewusstseins ablösen, wenn die Menschheit nicht in die völlige Dekadenz geraten wolle. So sagte er beispielsweise in einem Vortrag (1917): „Ein Mensch, der heute von dem Ideal von Rassen und Nationen und Stammeszugehörigkeiten spricht, der spricht von Niedergangsimpulsen der Menschheit. Und wenn er in diesen sogenannten Idealen glaubt, fortschrittliche Ideale vor die Menschheit hinzustellen, so ist das die Unwahrheit, denn durch nichts wird sich die Menschheit mehr in den Niedergang hineinbringen, als wenn sich Rassen-, Volks- und Blutsideale fortpflanzen." (Rudolf Steiner: Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis. 14 Vorträge, Dornach 1917. GA 177. Rudolf Steiner Verlag, 5. Auflage, Dornach 1999, Seite 220.)

Dieser grundsätzlichen Überzeugung Rudolf Steiners stehen überlieferte Äußerungen gegenüber, die deutlich machen, dass auch er keineswegs frei war von den in seiner Zeit verbreiteten Ressentiments gegenüber Menschen anderer Hautfarben und aus anderen Kulturen. Zu diesem Widerspruch ist sehr viel publiziert worden und bis heute gibt es dazu eine kontroverse Diskussion. Einzelne Autoren versteigen sich dabei zu der Aussage, Rudolf Steiner sei ein Wegbereiter der nationalsozialistischen Rassenideologie gewesen – ein Urteil, das ebenso oft widerlegt wie mit den immer gleichen Zitaten neu aufgelegt wurde.

Das "Frankfurter Memorandum"

2008 unterzeichneten eine Reihe namhafter Anthroposoph:innen ein Memorandum, das sich detailliert mit dieser Thematik auseinandersetzte:
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Die „Stuttgarter Erklärung“ und das Selbstverständnis der Waldorfschulen

Im Oktober 2007 verabschiedeten die deutschen Waldorfschulen die „Stuttgarter Erklärung“. Im November 2020 wurde die Erklärung in einer überarbeiteten Fassung neu verabschiedet. Sie stellt klar, dass die Waldorfschulen sich von jeder Form der Diskriminierung, also auch von jedweder ethnisch begründeten Form der Diskriminierung, distanzieren. Sie arbeiten auf der Grundlage der anthroposophisch erweiterten Menschenerkenntnis und beziehen aus ihr eine Fülle von Gesichtspunkten, die den Respekt vor der einzigartigen Individualität eines jeden Menschen in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen stellen.

Stuttgarter Erklärung

Waldorfschulen gegen Rassismus und Diskriminierung                             

  • Die Freien Waldorfschulen leisten bei der Wahrnehmung ihrer erzieherischen Aufgabe im Geiste der Menschenrechte einen Beitrag für eine Gesellschaft, die auf dem solidarischen Zusammenleben aller Menschen beruht.
  • Als Schulen ohne Auslese, Sonderung und Diskriminierung ihrer Schüler:innen sehen sie alle Menschen als frei und gleich an Würde und Rechten an, unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, nationaler oder sozialer Herkunft, Geschlecht, Sprache, Weltanschauung oder Religion.
  • Die Anthroposophie als Grundlage der Waldorfpädagogik richtet sich gegen jede Form von Rassismus und Nationalismus. Die Freien Waldorfschulen sind sich bewusst, dass das Gesamtwerk Rudolf Steiners vereinzelt Formulierungen enthält, die von einer rassistisch diskriminierenden Haltung der damaligen Zeit mitgeprägt sind. Die Waldorfschulen distanzieren sich von diesen Äußerungen ausdrücklich. Sie stehen im vollständigen Widerspruch zur Grundausrichtung der Waldorfpädagogik und zum modernen Bewusstseinswandel.
  • Weder in der Praxis der Schulen noch in der Lehrer:innenausbildung werden rassistische oder diskriminierende Tendenzen geduldet. Die Freien Waldorfschulen verwahren sich ausdrücklich gegen jede rassistische oder nationalistische Vereinnahmung ihrer Pädagogik und von Rudolf Steiners Werk.
  • Aus diesem Selbstverständnis arbeiten die Freien Waldorfschulen seit ihrer Gründung 1919. Waldorfpädagogische Einrichtungen engagieren sich heute weltweit in den unterschiedlichsten kulturellen, politischen, sozialen und religiösen Kontexten.

Verabschiedet von der Mitgliederversammlung des Bundes der Freien Waldorfschulen am 20. November 2020. Eine frühere Version der Erklärung wurde am 28. Oktober 2007 in Stuttgart verabschiedet. 

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Die inzwischen hundertjährige Geschichte dieses pädagogischen Impulses, der sich über die ganze Welt verbreitet hat, zeigt, dass die Waldorfpädagogik unvereinbar mit rassistischem Gedankengut ist und ernst macht mit der Aufforderung, global zu denken und lokal zu handeln. Wie anders hätte sie gleichermaßen von Indien, China, Ostasien, Ost- und Südafrika, Nord- und Südamerika, Israel und Ägypten sowie ganz Europa adaptiert und weiterentwickelt werden können?

Henning Kullak-Ublick

Lesetipp: Wir meinen es ernst - ein Gespräch über rassistische Tendenzen in der Gesellschaft, in den Waldorfschulen und im Werk Rudolf Steiners (Interview mit Henning Kullak-Ublick, April 2021)

Zur Vertiefung: Website anthroposophie-gegen-rassismus.de