7 Kernforderungen an die Bildungspolitik

Für ein gerechtes und zukunftsfähiges Schulwesen

Der Bund der Freien Waldorfschulen setzt sich mit aller Kraft für ein zukunftsfähiges Schulwesen ein, das die Individualität der Schüler:innen, die Professionalität der Lehrer:innen und die Mündigkeit der Eltern gleichermaßen ernst nimmt. Um die dafür nötigen Debatten anzuregen, haben wir unsere Vision in „7 Kernforderungen an die Bildungspolitik“ zusammengefasst.

Die Ergebnisse der Elternstudie 2019 zeigen, dass unsere Forderungen den Wünschen und Anforderungen, die Eltern in Deutschland an die Schule ihrer Kinder stellen, mehrheitlich entsprechen.

7 Kernforderungen an die Bildungspolitik
Präambel
Jedes Kind ein Könner* – Schule in der Zivilgesellschaft

Freiheit und Verantwortung sind zwei Grundpfeiler der Zivilgesellschaft. Aus bürgerschaftlichem Engagement entstehen neue, am Gemeinwohl orientierte Organisationsformen als dritte Säule zwischen staatlichen Institutionen und profitorientierten Unternehmen.

Die Freien Waldorfschulen verstehen sich mit anderen Schulen in freier Trägerschaft in diesem Sinne als Protagonisten eines Schulwesens, das jenseits von staatlichen, ökonomischen oder ideologischen Interessen die Fähigkeitenbildung jedes einzelnen Kindes in den Mittelpunkt stellt.

Unsere Schulen stehen vor Herausforderungen wie nie zuvor. Zahlreiche gesellschaftliche, soziale, demografische und technologische Entwicklungen verändern mit zunehmender Geschwindigkeit das Leben der Kinder und Jugendlichen und bedürfen pädagogischer Antworten. Um diesen Herausforderungen entsprechen zu können, brauchen wir Schulen, die allen Schüler:innen offenstehen und deren Lehrer:innen flexibel auf ihre Bedürfnisse eingehen können. Die praktische Umsetzung dieser Herausforderungen erfordert neue Schulformen, die von der Könnerschaft jedes einzelnen Kindes ausgehen und unser auf Selektion ausgerichtetes Schulwesen zugunsten einer Kultur des gemeinsamen und individuellen Lernens hinter sich lassen.

Der Bund der Freien Waldorfschulen legt mit den „Sieben Kernforderungen an die Bildungspolitik“ Wegmarken für ein Schulwesen vor, das die Professionalität von Lehrer:innen bei der Bewältigung dieser Aufgaben ebenso ernst nimmt wie die Mündigkeit der Eltern. Die Waldorfschulen verfügen wie viele anderen Schulen in freier Trägerschaft über eine lange Erfahrung in der Selbstorganisation von Schule und der Zusammenarbeit mit Eltern. Zahlreiche Ideen, die später auch von staatlich-kommunalen Schulen aufgegriffen wurden, verdanken sich der Flexibilität und Innovationskraft, mit denen unabhängige Schulen auf neue pädagogische Herausforderungen reagieren können.

Immer mehr Eltern entscheiden sich für eine Schule in freier Trägerschaft, was gelegentlich zu dem kritischen Einwand führt, dadurch werde ein Zweiklassensystem gefördert, in welchem Kinder aus wohlhabenderen Familien eine „Privat“-Schule besuchen könnten, während der „Rest“ auf eine staatliche Schule angewiesen sei. So berechtigt diese Sorge ist: Sie beschreibt nichts anderes als die Wirkungen einer Schulgesetzgebung, die eine künstliche Trennungslinie zwischen Schulen in staatlicher und freier Trägerschaft zieht, indem sie den freien Schulen eine gleichberechtigte Finanzierung vorenthält. Pädagogische Initiative in sozioökonomisch benachteiligten Stadtteilen oder dünn besiedelten Regionen wird durch dieses Zweiklassensystem in der Finanzierung außerordentlich erschwert: Eltern von Kindern, die eine freie Schule besuchen, finanzieren das Schulwesen wie alle anderen Steuerzahler auch, müssen sich aber zusätzlich um die gesetzlich verordnete Unterfinanzierung der eigenen Schule kümmern.

Internationale Bildungsvergleiche zeigen auf, dass der Bildungserfolg junger Menschen in Deutschland in einem Maß von der sozialen Herkunft abhängt wie sonst in keinem anderen vergleichbaren Land. Durch eine Stärkung der freien, zivilgesellschaftlichen Schulen werden die sozioökonomischen Unterschiede abgebaut und mehr Chancengleichheit für junge Menschen geschaffen. Hierfür muss der Schulsektor in einem deutlich höheren Maß für bürgerschaftliches Engagement geöffnet werden, was die Gründung von Schulen in sozio-ökonomisch benachteiligten Stadtteilen einschließt. Dass das in der Praxis funktioniert, zeigen die meisten skandinavischen Länder und die Niederlande, in denen alle Familien die freie Wahl zwischen verschiedenen Schulen haben, ohne dafür mit hohen Schulgeldzahlungen bestraft zu werden. So entsteht ein produktiver Wettbewerb, der nichts mit den Einkommen der Eltern, aber umso mehr mit pädagogischer Gestaltungsfreiheit zu tun hat und dadurch allen Schulen zugutekommt. In einer aufgeklärten Gesellschaft kann niemand einen Monopolanspruch im Bildungswesen für sich beanspruchen. Vielmehr kommt es auf die Förderung der Zusammenarbeit von Eltern und Lehrer:innen an, ohne die die pädagogischen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft nicht zu bewältigen sind. Die „Elternstudie 2019“ belegt eindrücklich, dass die hier formulierten „7 Kernforderungen“ von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen sind.

Vorstand Bund der Freien Waldorfschulen
Nele Auschra, Thorsten Feles, Stefan Grosse, Hans-Georg Hutzel, Henning Kullak-Ublick, Thomas  Lutze-Rodenbusch, Eva Wörner
Stuttgart, Juni 2019

1. Recht auf umfassende Bildung für jedes Kind

Das Recht auf Bildung markiert ein Menschenrecht, an dem sich alle schulpolitischen Entscheidungen zu orientieren haben.

Der BdFWS (Bund der Freien Waldorfschulen) fordert, das Recht auf selektionsfreie Bildung im deutschen Grundgesetz ausdrücklich zu verankern. Der Schulpflicht ist dieser Rechtsanspruch eines jeden Kindes gegenüberzustellen. Das Recht auf Bildung ist Teil der Charta der Menschenrechte der Vereinten Nationen[1] und die Antwort der Zivilgesellschaft auf einen Bildungsbegriff, der die Schüler:innen zu Objekten vorgegebener Ziele macht, statt in ihnen wahrnehmende, fühlende und handelnde Subjekte ihrer sich bildenden Lebenserfahrung in vielfältigen Formen der Weltbegegnung zu erkennen.


[1] Artikel 26 (Recht auf Bildung), Absatz 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung. Der Unterricht muss wenigstens in den Elementar- und Grundschulen unentgeltlich sein. Der Elementarunterricht ist obligatorisch. Fachlicher und beruflicher Unterricht soll allgemein zugänglich sein; die höheren Schulen sollen allen nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten und Leistungen in gleicher Weise offenstehen. Absatz 3: In erster Linie haben die Eltern das Recht, die Art der ihren Kindern zuteil werdenden Bildung zu bestimmen.

2. Freiheit in der Bildung

Wer handelt, übernimmt Verantwortung. Wer pädagogisch handelt, erhält diese Verantwortung von den Eltern, der Gesellschaft und dem Staat übertragen, übernimmt sie aber vor allem gegenüber den Kindern und Jugendlichen, mit denen er oder sie arbeitet. Lebendige Pädagogik entsteht nur, wenn sich die Lehrer:innen als Gestalter und Begleiter eines aktiven Lernprozesses verstehen, nicht als Ausführende extern vorgegebener Standards oder Curricula.

Der Bund der Freien Waldorfschulen (BdFWS) fordert deshalb Autonomie aller Schulen in der Gestaltung ihrer Profile und deren Umsetzung, ihrer personellen Ausstattung sowie der Verwendung ihrer Budgets.

3. Chancengleichheit durch freie Schulwahl

Chancengleichheit entsteht durch Chancenvielfalt – alle Familien sollen eine Wahl zwischen unterschiedlichen Schulen für ihre Kinder haben. Diese Wahl muss unabhängig von der Finanzkraft der Eltern getroffen werden können. Die Schulgesetzgebung der Bundesländer fördert ein Zweiklassensystem, indem sie die freien Schulen durch unzureichende Finanzhilfen zur Erhebung von Schulgeld zwingt und dadurch bewusst Hürden für einen ungehinderten Zugang schafft – und dies trotz der Solidargemeinschaften von Eltern und Lehrer:innen, die Kindern aus Einkommensschwächeren Familien den Zugang zu ihrer Schule offenhalten zu können. Die innovativen Ideen der freien Schulen werden gerne und oft kopiert, Eltern und Lehrer:innen dieser Schulen werden jedoch für ihr gesellschaftliches Engagement abgestraft.

DerBund der Freien Waldorfschulen (BdFWS) fordert: Die Finanzmittel folgen dem Elternwillen durch die Auszahlung einer Schüler:innenkopfpauschale an die Schule ihrer Wahl. Durch variable Anteile der Pauschalen soll pädagogische Initiative auch in sozial benachteiligten Gebieten ermutigt werden und einen produktiven, weil nicht einkommensabhängigen Wettbewerb beflügeln.

4. Mündigkeit in einer digitalisierten Welt

Die Erkenntnis, dass Mündigkeit weit mehr ist als bloße Funktionskompetenz, gehört zu den fundamentalen Einsichten der Aufklärung. Sie beruht auf der Fähigkeit, das eigene Denken, Fühlen, Wahrnehmen und Handeln in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Das gilt nicht weniger für den Umgang mit digitalen Technologien, die diese Fähigkeit bestenfalls unterstützen, nicht aber ersetzen können, ohne damit die Mündigkeit selbst aufzugeben. Der Erwerb einer digitalen Mündigkeit gehört daher zu den fundamentalen pädagogischen Herausforderungen der Gegenwart und bedarf eines ganzheitlichen Ansatzes, welcher die oben aufgeführten Fähigkeiten ebenso berücksichtigt wie die alterstypischen Formen der Weltaneignung in der Kindheit und Jugend. Dazu bedarf es eines stark erweiterten Begriffs der Medienkompetenz, der die ganze Vielfalt medialer Kommunikationsmöglichkeiten umfasst, vom Hören, Schreiben, Lesen, Recherchieren, Quellenforschung bis zu künstlerischen Ausdrucksformen wie dem Zeichnen, Malen, Musizieren und dem Theater. Weiter gehört ein elementares Verständnis der angewandten Technologien, der darin sich ausdrückenden Denkformen und ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen zu einem Mediencurriculum, das seinen Namen verdient. Eine medienübergreifende, erfahrungsgestützte Urteilsfähigkeit ist die Basis der Medienmündigkeit.

Der Bund der Freien Waldorfschulen (BdFWS) fordert eine ganzheitliche Medienerziehung, welche eine bewusste, altersbezogene Balance von digitalen Technologien und ihrer Anwendung mit analogen, haptischen, sinnlichen, sozialen und intellektuellen Erfahrungen herstellt. Dazu gehören grundlegende Fortbildungsangebote für Lehrer:innen aller Altersstufen.

5. Inklusion – Eine Schule für alle ist kein Sparmodell

Inklusion ist eine gesellschaftliche Idee, die einen Prozess des Umdenkens, „Umfühlens“ und Umlernens notwendig macht. Sie lässt sich nicht verordnen, aber um sich überhaupt entfalten zu können, braucht sie eine infrastrukturelle Basis, die das auf Selektion aufgebaute Schulwesen vollständig überwindet.

Der Bund der Freien Waldorfschulen (BdFWS) fordert zusätzliche Finanzhilfen für die Fortbildung aller Lehrer:innen, für therapeutische Fördermaßnahmen und für nötige bauliche Investitionen.

6. Lehrer:innenbildung radikal erneuern

Lehrer:innenbildung ist weit mehr als die selbstverständlich notwendige fachliche Kompetenz. Lehrer:in-Sein erfordert die Fähigkeit, den Schüler:innen schnell, kreativ, empathisch und situativ ganz unterschiedlich Orientierung zu geben und Mut zu machen. Deshalb müssen werdende Lehrer:innen als wesentlichen Teil ihrer Ausbildung ihre kreativen Möglichkeiten kennen und erweitern lernen, ihre Persönlichkeit und ihre Empathiefähigkeit stärken und grundlegende diagnostische Kenntnisse erwerben. Pädagogik bedarf der wissenschaftlichen Fundierung und Reflexion, im Vollzug ist sie aber eine Kunst, die nur übend erworben werden kann.

Der Bund der Freien Waldorfschulen (BdFWS) fordert ein Umdenken in der Lehrer:innenbildung: von der Reduktion auf die Fachlichkeit zu einer Kunst des Lehrens, die Kopf, Herz und Hand gleichermaßen anspricht und entwickelt.

7. Vielfalt fördern – Kulturmonopole abbauen

Dass Monokulturen zur Verarmung führen, Vielfalt hingegen zu einer lebendigen Entwicklung, ist eine Erkenntnis, die für Kultur nicht weniger zutrifft als für die Natur. Trotz dieser offensichtlichen Tatsache wird im deutschen Schulwesen weiterhin einer Standardisierung das Wort geredet, die nicht etwa einen Anspruch auf zusätzliche Förderung aufgrund von definierten Mindeststandards definiert, sondern Regelstandards setzt, die häufig nicht nur im Widerspruch zur pädagogischen Praxis stehen, sondern diese regelrecht konterkarieren. Der Anspruch, mit solchen Instrumenten in die fachliche und pädagogische Freiheit der Lehrenden einzugreifen, geht über die selbstverständlich sinnvolle Rechtsaufsicht des Staates weit hinaus und ist ein Relikt aus einem autoritären Staatsverständnis, welches Schule als Erziehungsanstalt für die Bedürfnisse des Staates – heute auch der Wirtschaft – versteht statt als Ort einer umfassenden Fähigkeitenbildung aller.

Der Bund der Freien Waldorfschulen (BdFWS) fordert einen grundlegenden Paradigmenwechsel im hierarchischen Verhältnis von staatlicher Schulaufsicht und einzelner Schule. Dem Verständnis der staatlichen Schule als „Regelschule“ setzt er die Idee eines gestalteten Pluralismus entgegen. „Gestaltet“ heißt hier, dass die staatlichen Organe sich auf die Rechtsaufsicht konzentrieren und die inhaltliche Ausgestaltung des Schullebens – einschließlich der schulübergreifenden Absprachen (Mindeststandards, gemeinsame curriculare Ziele für bestimmte Klassenstufen, Leistungsnachweise etc.) – den Handelnden vor Ort überlassen. Das oft gerühmte Innovationspotenzial der Schulen in freier Trägerschaft geht unmittelbar auf die Praxis und Erfahrung mit dem gestalteten Pluralismus zurück. Von den Erfahrungen der Waldorfschulen in der Selbstorganisation sollten alle Schulen profitieren können.

Schluss

Mit 90.000 Schüler:innen repräsentieren die Waldorfschulen die Schüler:innenzahl eines der kleineren Bundesländer. Rechnet man die weiteren Schulen in freier oder konfessioneller Trägerschaft hinzu, wird deutlich, dass bereits der Begriff der „Ersatzschule“ historisch überholt ist. Es wird Zeit, Schule nicht mehr über den Träger, sondern über ihr jeweiliges pädagogisches Profil und die daraus resultierende Praxis als Teil eines lebendigen, diskursiven und zukunftsoffenen Systems „Bildung“ zu verstehen. Die hier aufgeführten „7 Kernforderungen“ sind ein Beitrag zu diesem notwendigen Diskurs über Schule in der Zivilgesellschaft.

Blickpunkt 9

7 Kernforderungen an die Bildungspolitik

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