Links- bzw. Rechtshändigkeit beim Schreibenlernen

Jedes Kind erobert seinen Körper im Laufe seines Heranwachsens durch vielfältige Tätigkeiten, insbesondere durch bewusste und unbewusste Bewegungsabläufe. Waldorfschulen legen großen Wert darauf, die Kinder über Geschicklichkeits- und Balanceübungen, Bewegungsspiele und viele feinmotorische Tätigkeiten dabei zu unterstützen.

Das Schreibenlernen stellt innerhalb dieser umfassenden Bewegungserziehung einen sehr übungsintensiven Spezialfall dar. Vorbereitet wird das Schreiben an der Waldorfschule durch Orientierungsübungen im Raum und durch das so genannte "Formenzeichnen", bei dem die Kinder lernen, sich  während des Zeichnens auf die Linienführung zu konzentrieren. Erst wenn sie darin eine gewisse Sicherheit gewonnen haben, lernen sie die Buchstaben kennen. Auch das geht zunächst vom Zeichnen aus und wird in kleinen Schritten zu Worten oder ganzen Sätzen weitergeführt. Der Weg geht vom Hören über die Bewegung zum Zeichnen und wird erst am Ende zum eigentlichen Schreiben, bei dem verschiedene Buchstaben zu Lautfolgen zusammengefügt werden. Das Lesen wird erst systematisch geübt, wenn die Kinder sich über eine längere Zeit übend mit den Buchstaben vertraut gemacht haben (1).

Diese sehr gründliche Eroberung der Schrift braucht mehr Zeit als heute üblicherweise darauf verwendet wird. Auch Kinder, die bereits schreiben können, erleben die zeichnerisch-künstlerische Herangehensweise als Bereicherung, weil sie neben der Schrift viele andere Dinge wie ihre Konzentration, ihre Zeichentechnik und ihren Umgang mit Farben üben. Langsamer lernende Kinder wiederum müssen nicht dauernd erleben, dass sie bereits in der ersten Klasse hinter den anderen Kindern zurückbleiben.

Eine häufig gestellte Frage betrifft den Umgang mit der Links- oder Rechtshändigkeit. Soll man die Kinder "umstellen" oder nicht? Entgegen der früheren Praxis, Kinder auf jeden Fall zum Schreiben mit der rechten Hand zu erziehen, wird heute an allen Schulen Rücksicht auf die individuelle Veranlagung der einzelnen Kinder genommen. Zu unterscheiden ist, ob es sich um eine ausgeprägte Seitigkeit handelt, bei der die Kinder auch beim Sehen, Hören, Hüpfen oder allgemeinen Tun eine Seite bevorzugen oder ob sie bei unterschiedlichen Tätigkeiten die bevorzugte Seite auch einmal wechseln. Wenn die Seitigkeit eindeutig ist, wird sie nicht angetastet. Ist sie unbestimmt, kann es durchaus sinnvoll sein, dass die Kinder das rechtshändige Schreiben ausprobieren. Es geht auch hier vor allem darum, dass die Kinder ihren Körper als Instrument nutzen lernen - die Frage, mit welcher Seite sie schreiben, ist dabei weniger wichtig, als dass sie es gerne und geschickt tun.

Eine gewaltsame Umstellung von links auf rechts behindert diese Beheimatung im eigenen Körper und steht daher im Widerspruch zur Waldorfpädagogik.

Henning Kullak-Ublick

  1. Dass auch die Lesekompetenz durch eine langsamere Vorgehensweise gestärkt, jedenfalls aber nicht beeinträchtigt wird, zeigt eine neuseeländische Studie. Sie bescheinigte 2012 den Waldorfschüler:innen nach dem fünften Schuljahr eine deutlich über dem Durchschnitt liegende Lesekompetenz (siehe auch Forschung/Waldorf im Vergleich).