„Im historischen Moment mutig die Initiative ergriffen“: Leipziger Fest zum 100-jährigen Waldorfjubiläum mit Blick auf weltweite Entwicklung der Schulbewegung

Leipzig/Hamburg/Stuttgart, 28. März 2019/CU. 100 Jahre Waldorfschule – dieses Jubiläum soll kein Blick in die Vergangenheit sein, sondern vielfältiger Anlass, Zeitfragen in der Pädagogik aufzugreifen. Diese Blickrichtung stand im Mittelpunkt des Waldorfjubiläums auf der Leipziger Buchmesse. „Weltweit wollen wir die Waldorfpädagogik neu entdecken, ihre Grundlagen vertiefen, den Bezug zur Zeit herstellen und nach der Zukunft fragen“, formulierte das Vorstandsmitglied des Bundes der Freien Waldorfschulen (BdFWS), Henning Kullak-Ublick, die Zielsetzung der Feierlichkeiten. Außerdem komme es im Jubiläumsjahr darauf an, die Begegnung zu suchen, sowohl außerhalb als auch innerhalb der weltweiten Waldorfschulbewegung. Kullak-Ublick sprach beim Festakt der Waldorfschulen im Leipziger Mendelsohn Haus.  

Wie diese Bewegung sich seit der Gründung der Mutterschule Stutttgart-Uhlandshöhe im September 1919 bis zu derzeit mehr als 1.000 Waldorfschulen weltweit entwickelt hat, schilderte die Hauptrednerin des Festakts, Nana Göbel, Vorstandsmitglied der internationalen Waldorforganisation Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners e.V. Dabei bezog sie sich auf ihre aus Anlass der Buchmesse erschienene Publikation „Die Waldorfschule und ihre Menschen. Weltweit. Geschichte und Geschichten 1919 – 2019“ (Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2019, ISBN 978-3-7725-7919-6). 

In ihren Ausführungen zeigte sich, dass sich „bestimmte Signaturen“ durch die Geschichte der Waldorfschule hindurch wiederholen. Stets sei eine Vorbereitungsarbeit nötig, bis dann wie 1919 „mutige Menschen in einem historischen Moment die Initiative zur Schulgründung ergreifen“. Immer seien dies die Eltern, die sich eine andere Pädagogik für ihre Kinder wünschten. Hinzu kämen außerdem Vertreter der Behörden, die durch Genehmigungen die neue Schule ermöglichten. Die Suche nach geeigneten Lehrer*innen sowie die Frage der finanziellen Basis für die neue Schule zieht sich nach den Worten Göbels ebenfalls wie ein roter Faden durch die Geschichte der Schulbewegung in allen Teilen der Welt. 

Dabei unterschied Göbel verschiedene Phasen der Ausbreitung der Waldorfschule. In den Jahren bis 1938 verbreitete sich die Idee der Waldorfschule von Stuttgart aus in die Schweiz, nach Norwegen, England und nach Nordamerika. Ein Hintergrund war auch die Bewegung für eine Reform des Schulwesens, das New Education Movement, die Suche nach einer neuen Pädagogik. „Das Anliegen war damals, den Kindern dabei zu helfen, sie selbst zu werden“, erläuterte Göbel. Auch nach Nord- und Osteuropa verbreitete sich in diesem Zeitraum die Idee der Waldorfpädagogik. Eine große Rolle spielten dabei Gruppen von Emigrant*innen. „Es gab viele jüdische Waldorflehrer, die mit dem Aufkommen des NS-Regimes Deutschland verlassen mussten“. So gelangte die Waldorfpädagogik auch nach Lateinamerika, wo in Buenos Aires die Anfänge der Steinerschule auf das Jahr 1939 zurückgehen. 

Eine zweite Phase der Ausbreitung erfolgte dann in den 1960er Jahren in der Südhemisphäre, als die Waldorfpädagogik auch in Australien, Neuseeland und Südafrika heimisch wurde, dorthin hatten sie Anhänger*innen des New Education Movement aus den englischsprachigen Ländern aus Europa exportiert. Als eine weitere Signatur dieser Ausbreitung erwies sich die Frage, wie der in Deutschland entwickelte Lehrplan der Waldorfschulen in einem anderen kulturellen Kontext neu entwickelt werden kann. In der dritten Phase der Ausbreitung der Waldorfpädagogik nach 1989 stellte sich diese Frage noch einmal verstärkt, als die Waldorfpädagogik dann auch Israel, Tansania, Kenia und Asien erreichte. „Die Pioniere dieser Schulgründungen suchten nach Inhalten, die zu ihren Kulturen passen“, erläuterte Göbel. Eine Herausforderung ergab sich gerade bei Indien, China oder Thailand aus der Tatsache, dass nun auch andere Religionen integriert werden mussten, die über die christliche Grundstimmung der Waldorfpädagogik hinausreichten. 

Die Entwicklung der Waldorfschule sei dabei noch lange nicht an ihrem Endpunkt angekommen. „Die Schule muss heute durch Elemente des Lebens ergänzt werden“, betonte Göbel. Weltweit sei es das Recht auf Kindheit sowie das Recht der Kinder, zu spielen, das auch in der Schule verteidigt werden müsse.  

Mit ihrem dreibändigen, 2000 Seiten umfassenden, Werk möchte Göbel auch an die engagierten Menschen auf allen Kontinenten erinnern, die der Waldorfpädagogik als Pioniere zur weltweiten Verbreitung verholfen haben. 

Aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der Waldorfpädagogik sind eine ganze Reihe von Publikationen erschienen, die vom BdFWS in zahlreichen Veranstaltungen auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt wurden, in Kooperation mit den anthroposophischen Verlagen. Sie befassen sich u.a. mit Grundlagen der Waldorfpädagogik, mit der Geschichte der Waldorfschule, ihren Anfängen in Stuttgart sowie der Rolle des Künstlerischen in der Waldorfpädagogik. Einen besonderen Schwerpunkt bildet auch die Haltung von Bienen, der die Aktion „Bees& Trees“ im Jubiläumsjahr gewidmet ist: Alle Waldorfeinrichtungen weltweit sollen zu Bienenoasen werden, wofür eine Publikation des BdFWS vielfältige Anregungen bietet. Ein Überblick der Neuerscheinungen findet sich unter https://t1p.de/Waldorf100-Buchneuerscheinungen