Vom Lehrplan der Waldorfschule

Waldorfschulen verstehen ihren Lehrplan als einen sich ständig entwickelnden Rahmenlehrplan, der in der konkreten Zusammenarbeit der Lehrerinnen und Lehrer mit ihren Schülerinnen und Schülern laufend weiter entwickelt, individualisiert und modifiziert wird.

Aus den grundlegenden Lehrplanempfehlungen Rudolf Steiners sowie einer Fülle praktischer Erfahrungen haben sich an den Waldorfschulen viele inhaltliche Bögen herauskristallisiert, die eine gemeinsame Basis für die konkrete Ausgestaltung vor Ort bilden. Eine Fülle von Empfehlungen zum Rahmenlehrplan gibt der Übersichtsband “Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele – vom Lehrplan der Waldorfschule“ (der sog. "Richter-Lehrplan"), der ebenfalls regelmäßig aktualisiert wird.

Die hier vorliegende Tabelle des interaktiven Lehrplans ist ein „Work in progress“, kann interessierten Eltern aber einen guten Überblick über die Schwerpunkte einzelner Klassenstufen (vertikal) und über die inhaltliche Entwicklung der verschiedenen Fachgebiete geben (horizontal).

Hier geht's zum interaktiven Lehrplan

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2023-2025: Projekt zur Aktualisierung des Lehrplans für das Fach Geschichte

Die Waldorfschulen basieren auf dem Bildungsverständnis, Individuation pädagogisch so zu begleiten, dass sich eine Biografie gemäß ihren eigenen Intentionen entfalten kann. Als zivilgesellschaftliche Einrichtung nimmt sie einerseits die öffentlich-allgemeine Aufgabe schulischer Bildung wahr, andererseits sieht sie sich dazu verpflichtet, die Selbstbegründung von Individualität zu fördern. Dies ist ein ideeller Selbstanspruch, an dem sie sich messen lassen muss.

Startschuss im Dezember 2022

Vom 02.-04.12.2022 fand auf Einladung des Instituts für Fachdidaktik und der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der FWS ein Treffen zur Überarbeitung des Geschichtslehrplans an Waldorfschulen statt. Die Teilnehmenden berieten in diesem Zusammenhang über die Anforderungen an den Geschichtsunterricht, die sich aus den gegenwärtigen ökologischen, gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen ergeben. Waldorfschulen sind zivilgesellschaftliche Einrichtungen und benötigen als politische Rahmenbedingungen plurale und diverse Gesellschaften. Dies erfordert eine aktive Teilnahme an wissenschaftlichen und politischen Diskursen.

Sowohl als Schulen in einem Einwanderungsland als auch als Teil einer Schulbewegung, die in 85 Ländern auf allen Kontinenten vertreten ist, sind Waldorfschulen Kosmopolitismus und kultureller Diversität verpflichtet. Daraus folgt nicht nur eine Ablehnung jedweder Diskriminierung, sondern auch ein aktives Interesse an der Überwindung kolonial geprägter oder strukturell rassistischer Narrative.

Für die von Rudolf Steiners pädagogischen Ideen geprägten Waldorfschulen entstehen aus dieser Orientierung eine Reihe besonderer Herausforderungen, die sich aus dem Problem eines gewissen Traditionalismus und der Steiner-Rezeption ergeben. Hier stehen sich gegenüber anthroposophisch orientierte Dogmatiker, die Steiners Aussagen als spirituelle Offenbarung quasireligiös rezipieren, und wissenschafts- und erkenntnisorientierte Rezipienten, die Steiners Anthroposophie als Anregung zur Ausgestaltung ihres individuellen Weltbildes bzw. ihres professionellen Handelns verstehen. Während letztere zu einer offenen Diskursteilhabe tendieren, tragen erstere leider erheblich dazu bei, dass die Waldorfpädagogik als vorwissenschaftlich-mystisches und irrationales Konstrukt bewertet wird. Insbesondere das Kulturstufenmodell steht hier im Fokus der Kritik.

Überarbeitungsschwerpunkte

Vor diesem Hintergrund haben die Anwesenden beschlossen, die Theorie und Praxis des kulturgeschichtlichen Unterrichtsansatzes in einem Großprojekt, in dem 29 Einzelprojekten vernetzt werden, grundlegend zu analysieren. Die Überarbeitung umfasst

  • die Untersuchung von Steiners Kulturverständnis vor dem Hintergrund heutiger kulturwissenschaftlicher Kategorien u.a. in Studien zu den Aspekten Freiheitsphilosophie, Menschenrechte, Nation und Rasse in seinem Werk, zu seinem kulturgeschichtlichen Narrativ das auch in die Waldorfpädagogik eingeflossen ist, zu seiner Methodik der geschichtlichen Symptomatologie, zur Rezeption seines Werkes an Waldorfschulen sowie zum Ich-Konzept der Waldorfpädagogik,
  • die Überarbeitung des Geschichtslehrplans, der auch in seinem Format neu ausgerichtet wird,
  • die Untersuchung des Geschichtsunterrichts in einer empirischen Studie, die auf der Grundlage einer qualitativen Befragung von Waldorfschüler:innen durchgeführt wird,
  • die Analyse der Motive für Vereinnahmungsversuche der Waldorfpädagogik von Rechtsradikalen,
  • die Untersuchung und Überarbeitung der didaktischen Begründung des Geschichtsunterrichts der Waldorfschulen vor dem Hintergrund der aktuellen Herausforderungen: Inklusion, Postkoloniale Perspektiven, Kosmopolitismus, globale Vernetzungsgeschichte, kulturelle Diversität, Dialog der Geschichten, Teilhabe an Geschichtskultur und reflexives Geschichtsbewusstsein.

An diese Projekte gliedert sich die Analyse und Überarbeitung der Unterrichtsansätze in Geschichte für die Klassen 5-12 an. Hier sollen in Einzelprojekten theoretische Begründungen, Handreichungen, Materialien und gute Beispiele mit dem Ziel erarbeitet werden, den Geschichtsunterricht von unreflektierten Traditionen, wissenschaftlicher Rückständigkeit, ideologische Zielen zu befreien und methodisch und didaktisch zu aktualisieren.

Michael Zech, März 2023