Spiegel online: Waldorfschule und Impfgegner. In Steiners Sekte

Am Sonntag, 14.11.2021, schreibt Tobias Rapp, Redakteur im Kulturressort des Spiegels, auf Spiegel online in einem „autobiografischen Essay“: „Waldorfschule und Impfgegner. In Steiners Sekte“ über Waldorfschulen, Rudolf Steiner, die Anthroposophen und das Impfen.

Als direkt von diesem Artikel angesprochen, haben wir als Bund der Freien Waldorfschulen eine Gegendarstellung bezüglich der unbelegten Behauptung, Steiner glaubte u.a., „[…] und wer sich impfe, der werde taub für die karmische Botschaft.“ gefordert, da diese Behauptung unrichtig ist. Rudolf Steiner hat eine solche Aussage zu keinem Zeitpunkt getätigt. Tatsächlich hat Rudolf Steiner die Wirksamkeit und den gesundheitlichen Nutzen von Impfungen für die Bekämpfung von viralen Epidemien nie in Frage gestellt oder davon abgeraten.

Es ist darüber hinaus angebracht, den gesamten Essay kritisch zu lesen:

Richtig ist, die Impfquote ist im deutschsprachigen Raum im Vergleich der westeuropäischen Länder niedrig. Dies der „einflussreichen Gruppe der Anthroposophen“ zuzuschreiben, die der Autor als Waldorfschüler meint, kennengelernt zu haben, ist jedoch eine starke und im Verlauf des Essays auch nicht belegte Behauptung.

Der geschilderte Fall des verstorbenen Mitschülers – in den 1980er Jahren – ist in der Tat erschütternd. Allerdings kann der Autor nur auf Erinnerung und Hörensagen zurückgreifen, die Umstände also nur mutmaßen und sein Rückschluss auf die tragende Rolle, die dabei dem anthroposophischen Elternhaus und dem anthroposophischen Arzt zugekommen sei, ist insofern rein privater Natur und seine persönliche Meinung. So viel zu „den Anthroposophen“, die der Schüler Rapp also in seiner Schulzeit kennengelernt hat.

Der Leser, die Leserin erfährt als nächstes: Thüringen, Sachsen und Bayern weisen die niedrigste Impfquote auf – Schuld daran trägt laut Rapp die geographische Nähe zu Polen und Tschechien mit „einer noch schlechteren Impfquote als in Deutschland“. Etwas anderes konnte er für diese Regionen als Erklärung auch kaum heranziehen, denn die Dichte anthroposophischer oder waldorfpädagogischer Einrichtungen ist in den Grenz-Landstrichen ausgesprochen niedrig.

Neben dieser Grenzlage sei außerdem die Impfskepsis eines „speziellen bürgerlichen Milieus“ ein weiterer Grund für die niedrigen Zahlen. Eines Milieus, das seine Zentren in der Schweiz habe und dem vom Autor nicht näher spezifizierten Süddeutschland. In dieser Thematik versierte Kenner:innen des aktuell gängigen Narrativs zur Verurteilung der Anthroposophie wissen: hier ist Baden-Württemberg gemeint. Nun, das ist nicht direkt Bayern, Thürigen oder Sachsen... Und von diesen Menschen aus dem „speziellen bürgerlichen Milieu“, so behauptet der Autor, seien viele Leute Anthroposophen. Das ist reichlich unkonkret und darüber hinaus unbelegt.

Der dann folgende Abschnitt des Essays listet auf, welche Unternehmen sich aus einem anthroposophischen Impuls gegründet haben. Diese Unternehmen und Unternehmungen haben bis heute Bestand. Wer sich für die dahinterstehenden Ideen interessiert, wird auf den jeweiligen Homepages wertvolle Information finden und sich selbst entscheiden, ob die Marke den eigenen Wertevorstellungen entspricht oder nicht. Für eine umfassende Recherche gibt es außerdem Publikationen von dezidierten Nicht-Anthroposophen (beispielhaft sei genannt Helmut Zander, Die Anthroposophie, Paderborn 2019), die sich zumindest Kenntnis der Materie erarbeitet haben, bevor sie Analysen veröffentlichen. Auch das Gesamtwerk Rudolf Steiners ist frei zugänglich und steht jedem offen – und zwar inklusive aller, zwar zahlenmäßig sehr wenigen, dennoch aber schmerzhaften und abstoßenden Stellen: den eindeutig rassistisch oder anderweitig diskriminierenden Aussagen Steiners. Diese sind übrigens mehrfach aufgearbeitet worden, Details und Links zu Publikationen siehe z.B. anthroposophie-gegen-rassismus.de – das ist kein „tobender Streit“, wie Rapp meint, sondern eine fundierte Aufarbeitung.

Die Anthroposophie als Glaube und Sekte darzustellen, sie gar in die Nähe einer Scientology-Bewegung zu rücken, wie Rapp es ganz nebenbei auch noch tut, entbehrt jeder sachlichen und fachlichen Grundlagen und ist in höchstem Maße polemisch. Eine klare Verortung findet man bei Wikipedia (de.wikipedia.org/wiki/Anthroposophie).

Unter Menschen, die sich Anthroposophen nennen – im Übrigen eine „soziologisch, weltanschaulich-religiös und politisch sehr heterogene Bewegung“ (Wikipedia) – gibt es Impfbefürworter, Impfskeptiker und auch Impfgegner. Wie übrigens auch in der Gesamtgesellschaft, und zwar aus unterschiedlichsten Gründen. Einen mit Worten Rudolf Steiners begründbaren Beleg für diese Impfskepsis gibt es jedoch nicht, so gerne dies vielleicht Protagonisten der unterschiedlichsten Richtungen behaupten. Eine gute Aufarbeitung von Steiners Aussagen zum Impfen gibt es hier: erziehungskunst.de/nachrichten/pandemie/anstoesse-zur-urteilsbildung-in-zeiten-der-coronapandemie. Nicht nur ist die Behauptung von Rapp, Steiner glaubte, „und wer sich impfe, der werde taub für die karmische Botschaft.“ unbelegt und unwahr. Eine Gesellschaftsgruppe für ein gesamtgesellschaftliches Problem verantwortlich zu machen ist unredlich und gefährlich verkürzt. Der Autor trägt damit zu einer kontraproduktiven Polarisierung bei, an deren Stelle in der gegenwärtigen Situation Geschlossenheit im Sinne des Ganzen notwendig ist.

Nele Auschra


Zur weiteren Vertiefung empfohlen:
Die Gesellschaft der anthroposophischen Ärztinnen und Ärzte in Deutschland zu Corona und Impfungen: www.gaed.de/corona/standortbestimmung
Die Stellungnahmen des Bundes der Freien Waldorfschulen zu Corona: www.waldorfschule.de/ueber-uns/corona-faq