Vom Lehrplan der Waldorfschule
Waldorfschulen verstehen ihren Lehrplan als einen sich ständig entwickelnden Rahmenlehrplan, der in der konkreten Zusammenarbeit der Lehrerinnen und Lehrer mit ihren Schülerinnen und Schülern laufend weiter entwickelt, individualisiert und modifiziert wird.
Aus den grundlegenden Lehrplanempfehlungen Rudolf Steiners sowie einer Fülle praktischer Erfahrungen haben sich an den Waldorfschulen viele inhaltliche Bögen herauskristallisiert, die eine gemeinsame Basis für die konkrete Ausgestaltung vor Ort bilden. Eine Fülle von Empfehlungen zum Rahmenlehrplan gibt der Übersichtsband “Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele – vom Lehrplan der Waldorfschule“ (der sog. "Richter-Lehrplan"), der ebenfalls regelmäßig aktualisiert wird.
Die hier vorliegende Tabelle des interaktiven Lehrplans ist ein „Work in progress“, kann interessierten Eltern aber einen guten Überblick über die Schwerpunkte einzelner Klassenstufen (vertikal) und über die inhaltliche Entwicklung der verschiedenen Fachgebiete geben (horizontal).
2023-2025: Projekt zur Aktualisierung des Lehrplans für das Fach Geschichte
Die Waldorfschulen basieren auf dem Bildungsverständnis, Individuation pädagogisch so zu begleiten, dass sich eine Biografie gemäß ihren eigenen Intentionen entfalten kann. Als zivilgesellschaftliche Einrichtung nimmt sie einerseits die öffentlich-allgemeine Aufgabe schulischer Bildung wahr, andererseits sieht sie sich dazu verpflichtet, die Selbstbegründung von Individualität zu fördern. Dies ist ein ideeller Selbstanspruch, an dem sie sich messen lassen muss.
Naturwissenschaften
Der naturwissenschaftliche Unterricht in der Oberstufe, der von PISA-Österreich als vorbildlich bezeichnet wurde, knüpft an eine Vielzahl verwandter Epochen der ersten acht Schuljahre an. Wurde die Welt in der Tier-, Pflanzen- und Menschenkunde der Mittelstufe vor allem bildhaft und an konkreten Erlebnissen erfahren, so geht es in der Physik, Chemie, Biologie und Erdkunde der Oberstufe um die selbstständige begriffliche Auseinandersetzung mit den Erscheinungen. Wurden in den jüngeren Klassen beispielsweise die Elemente Feuer, Luft, Erde und Wasser beim Hausbau oder im Schulgarten erlebt, bearbeitet und "begriffen" und in der Mittelstufe später phänomenologisch erkundet, so gilt es in der Oberstufe, die Gesetzmäßigkeiten, verschiedene Erklärungsmodelle und die sozialen Bezüge der Naturwissenschaften zu entdecken.
Naturwissenschaften in den Klassen 6 & 7
In der ersten Physikepoche der 6. Klasse und der ersten Chemieepoche der 7. Klasse geht es um die Entwicklung einer wachen Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit, noch nicht um eine abstrahierende Betrachtungsweise. Das Auffinden von Zusammenhängen ist wichtig. Bevor von chemischen Elementen die Rede ist, werden Formen und Aggregatzustände erkannt und nach und nach auch die diesen Zuständen wesensähnlichen Elemente: Wasser, Sauer-, Stick- und Kohlenstoff.
Die vergleichend-bildhafte Betrachtungsweise der 6. Klasse bekommt in der 7. Klasse stellenweise eine neue Richtung. Die einfachen Gesetze der Mechanik werden aus der praktischen Anwendung heraus entwickelt.
Naturwissenschaften ab der 9. Klasse
Nachdem die 9. Klasse gründliche Erklärungsansätze für viele technische Einrichtungen, wie z.B. Telefon und Dampfmaschine liefert, bildet sich erst in der 10. Klasse am Beispiel der Mechanik eine Systematik, die das Quantitative in den Vordergrund stellt. Bekannte Phänomene werden erkenntnismäßig durchdrungen, früher aus der Anschauung gewonnene Begriffe neu gefasst. Nachdem in der 11. Klasse die neueren elektrischen Errungenschaften (Funk, Röntgenstrahlen, Atomenergiegewinnung, Radioaktivität) bearbeitet worden sind, bildet die Licht- und Farbenlehre den Abschluss.
Die Rolle des Fremdsprachenunterrichts
Wie alle anderen Fächer der Waldorfschule soll auch der Fremdsprachenunterricht zur ganzheitlichen Entwicklung des Menschen beitragen. Indem neue Wege erschlossen werden, die Welt wahrzunehmen und zu empfinden, setzt das Erlernen neuer Sprachen einen Verwandlungs- und Entwicklungsprozess in Gang, der die eigene Sinnstiftung und Identität bereichert. Die große pädagogische Bedeutung, die Steiner diesem Unterricht beigemessen hat, kommt in seiner Forderung zum Ausdruck, dass ab der 1. Klasse zwei fremde Sprachen mit insgesamt sechs Wochenstunden unterrichtet werden sollten. Gleichzeitig verweist Steiner darauf, dass dieser Unterricht in seiner Zielsetzung über die praktische Sprachbeherrschung weit hinausgeht und dass eine wesentliche Dimension des Menschseins erst durch das Fremdsprachenlernen erschlossen werden kann.
Hieraus ergibt sich, dass es zu den Zielen des Erlernens zweier oder mehrerer Fremdsprachen an einer Waldorfschule gehört, eine positive Haltung gegenüber Menschen anderer Kulturen zu unterstützen und durch die Fähigkeit, die Weltsicht eines anderen Menschen nachempfinden zu können, Verständnis zwischen den Menschen zu fördern. Indem die Schüler lernen Fremdsprachen zu verstehen und zu sprechen und mit Aspekten der Geschichte, der Literatur und des Zeitgeschehens einer anderen Kultur vertraut gemacht werden, wird ihnen die Möglichkeit eröffnet eine Vielfalt sozialer und kultureller Kompetenzen zu entwickeln. Diese Kompetenzen beruhen auf der Fähigkeit, den Anderen wahrzunehmen und wertzuschätzen, während wir gleichzeitig unsere eigene Identität und "Stimme" finden.
Das Erlernen von Fremdsprachen eröffnet den Heranwachsenden dementsprechend neue Perspektiven auch im Hinblick auf ihre eigene Sprache, Kultur, Mentalität und Einstellung. Das hilft ihnen die Welt auf umfassendere und differenziertere Weise wahrzunehmen und schafft einen breiteren Rahmen für das Gespräch. Es entstehen neue Möglichkeiten, Gedanken zu strukturieren und darzustellen, so dass die Lernenden befähigt werden, ihr Wissen und ihre Selbsterkenntnis zu vertiefen und ihren Horizont zu erweitern.
Ablauf des Fremdsprachenunterrichts
Die Unterrichtsmethoden basieren auf einem ganzheitlichen Verständnis der menschlichen Entwicklung. Die Fremdsprache wird wie die Muttersprache in einem reichen sprachlichen Umfeld voller Aktion und Interaktion erworben, wobei die Aufmerksamkeit auf die gemeinsamen Interessen und Erfahrungen der jeweiligen Altersstufe gelenkt wird. Charakteristisch für den Erstspracherwerb ist auch, dass er immer in einem Kontext stattfindet und durch nicht-semantische Kommunikationsprozesse gestützt wird. Dazu gehören Gestik, Körpersprache, Mimik, Tonfall und die sog. kinesic interaction, sprachspezifische Bewegungen und körperliche Reaktionen, die sich – oft unmerklich – zwischen Sprecher und Hörer abspielen. Diese Kommunikationsprozesse begleiten auch alles spätere Sprachenlernen im Schulalter.
Hatte die Begegnung mit der Fremdsprache in der Unterstufe mit traditionellen Kinderreimen, Liedern und Gedichten begonnen, fortgeführt in der Mittelstufe durch die Lektüre von Märchen, Volkssagen und Geschichten, so bringt die Oberstufe nun die Begegnung mit den Klassikern, mit zeitgenössischer Literatur und vielfältig anregenden Sachtexten. Dadurch ergibt sich eine "primäre" Erfahrung der ästhetischen und kulturellen Dimensionen der jeweiligen Fremdsprache. Jede:r Schüler:in soll die Möglichkeit haben, auf eigene Weise aktiv und motiviert zu einer solchen Erfahrung zu kommen. Hieraus können solche individuellen und sinnstiftenden Entwicklungs- und Verwandlungsprozesse entstehen, die mit Humboldt als „Gewinnung eines neuen Standpunkts in der bisherigen Weltansicht“ bezeichnet werden können.
E. Dahl, P. Lutzker, M. Rawson